Nachdem wir uns im letzten Conlanging-Beitrag mit der Wiedergaben unserer Kunstsprache im Buch beschäftigt haben, soll es heute darum gehen, eine ganz eigene Schrift zu entwickeln. Dazu schauen wir uns am besten zunächst einmal an, welche Schriftsysteme es eigentlich in den Sprachen der Welt so gibt.
Wie auch sonst dient dieser Beitrag als einfache Einführung, der nur einen groben Überblick verschaffen und als Anregung für die Entwicklung des eigenen Schriftsystems dienen soll.
Beginnen wir zunächst einfach mit den Schriftsystemen, mit denen wir alle am vertrautesten sind:
Segmentale Schriften
Segmentale Schriften heißen so, weil jedes der verwendeten Zeichen/Buchstaben i.d.R. einen einzigen, ganz bestimmten Laut in der Sprache wiedergibt. Es wird zwischen zwei segmentalen Schriftsystemen unterschieden.
1. Alphabetische Schrift
Das ist das, was wir jeden Tag benutzen. Konsonanten und Vokale haben eigene, unabhängig voneinander geschriebene Zeichen, die auf der selben gedachten Linie notiert werden (wie in der Grundschule – erinnert ihr euch noch an die tollen Schreibübungshefte mit den vielen Linien, die uns anzeigten, wo die Buchstaben zu stehen hatten?). Alphabetschriften sind z.B. Lateinisch, Griechisch und Kyrillisch
Hier sehen wir ein Beispiel dafür, wie eine alphabetische Schrift aussehen kann.
Anmerkung: Nicht immer gibt es in Alphabetschriften eine 1-zu-1-Korrelation zwischen Buchstabe/Zeichen und Laut. Manchmal werden zwei oder mehr Buchstaben kombiniert, um einen Laut aus dem Lautinventar der Sprache wiederzugeben (z.B. dt. „sch“, „ch“, engl. „th“).
2. Konsonantenschrift
In diesem Schriftsystem werden Konsonaten ein wenig bevorzugt. Sie werden auf der gedachten Hauptlinie geschrieben, und entweder werden die Vokale gar nicht notiert, oder sie werden über oder auch unter den Konsonanten markiert. Semitische Schriften und auch Elbisch sind typische Konsonantenschriften.
Hr shn wr n Bsp dfr, w n Knsntnschrft hn Vkl sshn knn.
Ḧˑr sˑhˑn ẅr ˑ̈n Bˑ̈sp̈ˑl d̃f̼r, ẅˑ ˑ̈nˑ K̥ns̥ñtˑnschr̈ft m̈t V̥k̃lzˑ̈chˑn s̃̽sˑhˑn k̃nn.
Na, könnt ihr erraten, welche Zeichen ich im zweiten Beispiel für welche Vokale genommen habe?
Silbenschrift
Silbenschriften sind jedem, der sich einmal mit Japanisch beschäftigt hat, ebenfalls ein Begriff. Anders als die segmentalen Schriften wird in Silbenschriften nicht jeder einzelne Laut durch ein Zeichen wiedergegeben, sondern Silben. Das Inventar der Silbenschrift (das sog. Syllabar) setzt sich aus einigen Dutzend bis hunderten von Segmenten (sog. Syllabogramme) zusammen. Je nach Silbenschriftsystem wird höchstens eine ganze Sprechsilbe mit einem Silbenzeichen dargestellt. Oft aber müssen mehrere Silbenzeichen kombiniert werden, um die tatsächlich gesprochene Silbe darzustellen.
Silbenschriften unterscheiden sich dahingehend, ob sie die Syllabogramme nach einem gemeinsamen Muster bilden, oder willkürlich. Eine weitere Unterscheidung liegt darin, ob das Syllabar, also das Silbeninventar, in der Lage ist, alle Sprechsilben der betreffenden Sprache akkurat und ohne orthografische Kombinationsregeln wiederzugeben („echte Silbenschrift“, z.B. Chekoree), oder ob eine Reihe von Kombinationsregeln für diese Fälle notwendig ist („unechte Silbenschrift“, z.B. Japanisch (Japanisch ist übrigens auch keine richtige Silbenschrift, sondern wird in der Linguistik als Morenschrift bezeichnet, aber darauf werde ich an dieser Stelle nicht eingehen).
Die belegten Silbenstrukturen in Silbenschriften sind:
- CV: Konsonantischer Silbenanlaut (C) + vokalischer Silbengipfel (V) (am häufigsten)
- VC: vokalischer Silbengipfel + konsonantischer Silbenauslaut (seltener)
- V: Vokal
- C: Konsonant
(Hir) (se)-(hen) (wir) (ein) (Bei)-(sch)-(pil) (da)-(für), (wi) (ei)-(ne) (sol)-(che) (Sil)-(ben)-(sch)-(rif)-(t) (aus)-(se)-(hen) (kan)
Anmerkung: Um von den o.g. Silbenstrukturen nicht abzuweichen, habe ich in den Fällen, in denen innerhalb einer Silbe mehrere Konsonanten aufeinandertreffen, diese getrennten „Silben“ zugeordnet (z.B. „Schrift“ wird zu (Sch)-(rif)-(t)).
Handelt es sich damit bei diesem Beispiel um eine echte oder unechte Silbenschrift?
Wortschrift
Wortschriftsysteme, auch Logogrammschriften genannt, bestehen aus tausenden komplexer grafischer Zeichen und sind in ihrer Anzahl meist nach oben hin offen und erweiterbar. Jedes Zeichen wird i.d.R. einer bedeutungstragenden Einheit zugeordnet (z.B. „Wasser“), die aber nicht zwingend den ganzen Begriff darstellt (z.B. „Wasserhahn“ besteht aus „Wasser“ und „Hahn“, ist aber weder Wasser alleine, noch ein männlicher Nutzvogel).
Anders als die vorherigen Schriftsysteme kann man bei Logogrammen nicht zwingend auf die Aussprache des dargestellten Worts schließen. Die Schrift ist zu gewissen Teilen bedeutungsbasiert und bildet meist die sichtbare Welt oder abstrakte Konzepte ab, repräsentiert aber nicht das Lautinventar der dargestellten Sprache. Jedes logografische Element hat eine eigenständige Bedeutung, ob alleinestehend oder in Kombination mit weiteren, logografischen Elementen. Es gibt keine „leeren“ Elemente oder Zeichen!
Das klassischste Beispiel für eine Wortschrift ist natürlich das Chinesische, und ich kann nur jedem empfehlen, sich einmal mit der chinesischen Schrift auseinanderzusetzen, denn so kompliziert sie aussehen mag mit ihren vielen Strichen, sie hat System und ist absolut logisch aufgebaut.
Aber auch Teile der ägyptischen Hieroglyphen, der altorientalischen Keilschrift und der Maya-Schrift sind Logogramme. Auch die Wortkürzel in der Stenografie fallen hierunter.
[Da es unmöglich ist, Logogramme mit lateinischen Buchstaben nachzustellen, entfällt das Beispiel leider]
Ideenschrift
Handelt es sich bei der Schrift nicht um willkürliche, abstrakte Zeichen, denen Bedeutung verliehen wird, wie beim Logogramm, sondern um stilisierte Bilder, so spricht man stattdessen von einer Ideenschrift oder Ideografie.
Aber jetzt wirds kniffelig: Diese stilisierten Bilder stehen aber nicht für den abgebildeten Gegenstand (denn das wäre ein Piktogramm), sondern für die damit verbundene Idee oder Vorstellung.
Was bedeutet das im Klartext? Nehmen wir an, es existiert ein Zeichen, das irgendwie an einen Apfel erinnert. Wenn dieses Zeichen allerdingt nicht für „Apfel“ selber steht oder „Obst“ oder ähnliches, sondern stattdessen für „Gesundheit“ (wie sagt der Engländer? „An apple a day keeps the doctor away“), dann ist das ein Ideogramm. Elemente der ägyptischen Hieroglyphen sind ideografischer Natur.
Sprache muss kein eindeutig definierbares Schriftsystem aufweisen
Wie ihr am Beispiel der Hieroglyphen sicher seht, ist nicht jede Schriftsprache genau einem Schriftsystem zuzuordnen. Japanisch nutzt auch chinesische, also logografische, Schriftzeichen. Man kann also munter alles kombinieren. Es ist Sprache. Sprache darf kreativ sein!

Das Arassyanische ist eine Konsonantenschrift mit logografischen Elementen. Das hier gezeigte Textbeispiel ist eine Übersetzung der ersten Strophe des bekannten Liedes „In The Bleak Midwinter“.
Anordnung von Schrift
Ein weitere Punkt, auf den ich gerne eingehen möchte, ist die Anordnung von Schrift. Darunter fallen zwei Dinge. Zum einen die Schreibrichtung, zum anderen die Ausdehnung.
1. Schreibrichtung
Man unterscheidet üblicherweise vier Schreibrichtungen.
- Dextrograd: Waagerecht von links nach rechts (also das, was wir machen)
- Sinistrograd: Waagerecht von rechts nach links (Arabisch, Hebräisch)
- Bustrophedon: Zeilenweise abwechselnd (mir fällt leider kein Beispiel ein, aber der Begriff ist absolut episch)
- Senkrecht abwärts: hier wird unterschieden, ob die Spalten von rechts nach links gelesen werden (Chinesisch), oder von links nach rechts (Mongolisch)
Anmerkung: Typischerweise werden dextrograde und sinistrograde Sprachen von oben nach unten geschrieben, aber auch hier ist der Kreativität keine Grenzen gesetzt.
Natürlich sind diese vier Schreibrichtungen nicht das Non-plus-ultra und wir müssen uns beim Entwickeln unserer Schriftsprache daran halten. Eoin Colfer beispielsweise hat seine Alphabetschrift in den Artemis-Fowl-Bänden spiralförmig von innen nach außen laufen lassen.
2. Ausdehnung
Weiter oben habe ich schon angemerkt, dass segmentale Schriften sich an einer oder mehreren gedachten Linien orientieren und entlang dieser ihre Schriftsegmente setzen. Diese gedachte Linie muss aber nicht nur für segmentale Schriften gelten. Die chinesischen Schriftzeichen beispielsweise bilden jedes Mal ein perfektes Rechteck. Daran ist erkennbar, dass sich die Zeichen an zwei gedachten Linien orientieren (oben und unten) und eine feste Breite haben. Man könnte auch von vier gedachten Linien oder einem gedachten Rechteck ausgehen … aber das ist Definitionssache.
Arabisch hingegen hat diese feste Breite nicht. Einige Schriftzeichen sind länger als andere, andere sind ganz kurz.
Beim Entwickeln eurer Schriftsprache ist es vielleicht also noch interessant zu überlegen, wie hoch und wie breit einzelne Schriftzeichen in eurem System sein können.
Den eigenen Schriftstil finden
In Bezug auf Conlanging sind die einzigen Grenzen natürlich wie immer die eigene Vorstellungskraft. Jedem ist es selbstverständlich in erster Linie frei überlassen, welches Schriftsystem er für seine Kunstsprache auswählt.
Welches System man sich aussucht, ist v.a. motivationsabhängig
Wollt ihr Linguisten beeindrucken und habt eine wahnsinnige Geduld und Motivation? Dann stürzt euch auf die Logogramme und entwickelt etwas richtige Cooles! Ich weiß, ihr könnt das! Und im Zweifelsfalle immer wieder beim Chinesischen abgucken …
Logogramme sind auch ideal geeignet für Leute, die ihrer Sprache den ultimativen „Exotik-Kick“ verleihen wollen, deren Sprache und Sprecher einen hohen Wert auf Kunst und Kultur legt. Logogramme sind bildhaft und lebendig. Ein Volk, das Logogramme verwendet, ist wahrscheinlich niemals langweilig oder stoisch.
Silbenschriften sind ideal, wenn man zwar immer noch die Sprache un-europäisch wirken lassen möchte, aber sie einfacher zu schreiben sein soll. Silbenschrift ist meiner Meinung nach für jedes Volk geeignet, jede Art von Sprechergruppen. Es kann aber sein, dass man ein wenig länger an diesem Schriftsystem dransitzt, als an anderen.
Konsonantenschriften sind ebenfalls für so ziemlich jede Sprache geeignet. Vielleicht sollte man jedoch davon absehen, wenn es sich um eine Sprache handelt, die viele Töne hat und man diese zusammen mit den Vokalen auf den einzelnen Konsonanten markieren möchte. Dann kann es nämlich passieren, dass man nur noch Striche und Punkte auf, unter, neben und in den einzelnen Konsonsnten stehen hat, um alles irgendwie zu notieren. Aber wenn man genau das beabsichtigt, werd ich niemanden davon abhalten …
Alphabetschrift schließlich ist die für uns am einfachsten und praktischsten zu entwickelnde Schrift, die man mit den richtigen Tools sich sogar problemlos als Font auf den Rechner packen kann, wenn sie fertig ist. Die Herausforderung hier besteht, etwas zu erfinden, das nicht zu sehr nach „Ich hab mich durch Windings geklickt und einfach zufällige Zeichen ausgesucht“ aussieht. Es ist schwerer als man annimmt, wie ich aus persönlicher Erfahrung berichten kann …
Überlegt euch, welche Werkzeuge eurem Volk zum Schreiben vorliegen!
Hammer und Meißel auf Stein?
Dann werden sie bestimmt keine Bögen in ihren Schriftzeichen haben und sich hüten, allzu komplexe Symbole zu nehmen. Alphabetschrift oder Konsonantenschrift ohne Vokale ist am naheliegensten.
Tontafel/Wachstafel und Griffel?
Hier gehts schon einfacher mit dem Reinritzen, aber wer schonmal auf einer solchen Tafel geschrieben hat, weiß: Viel Raum für übermäßig komplexe und verschnörkelte Schrift ist da nicht …
Papier/Pergament und Feder/Stift?
Ist es üblich, handschriftlich alles niederzuhalten, wird es auch mal schnelle, niedergekritzelte Notizen geben. Beachtet beim Entwickeln, dass in diesem Fall eure Zeichen nicht nur dann lesbar sein dürfen, wenn man penible Schönschrift schreibt. Es sei denn, Schrift ist ausschließlich der Obrigkeit vorenthalten und wird nur z.B. an Sonntagen gebraucht …
Computer/…?
Im Sci-Fi und den unendlichen Weiten des Weltalls gelten eh eigene Gesetze. Wenn der Computer die ganzen Schriftzeichen kodiert hat und man nur noch damit Nachrichten schreibt, kann man alles nutzen, von Alphabeten bis zu Logo- oder sogar Ideogrammen.
Natürlich wird es euch nicht beim ersten Versuch gelingen, Schriftzeichen zu finden, die euch gefallen. Wie bei allem anderen muss man hier ausprobieren, was funktioniert und was nicht. Lasst eurem Handgelenk freien Lauf. Probiert, einige Wörter oder Sätze mit euren Zeichen zu schreiben und schaut, wie es aussieht. Holt euch Inspiration von anderen Kunst- und natürlichen Sprachen. Irgendwann werdet ihr eure ganz persönliche Schriftsprache entwickelt haben.
In diesem Sinne: Frohes Erfinden
Falls noch Fragen offen sein sollten oder ihr gerne nähere Informationen zu einem der hier erwähnten Themen haben wollt, zögert nicht, diese in den Kommentaren zu stellen oder mir eine Mail zu schreiben.
Ich hätte ein Beispiel, für Bustrophedon: Das Lateinische. Ich weiß nicht genau wann, aber es gab eine Zeit, in welcher man in einer Zeile angefangen hat, von links nach rechts zu schreiben, und in der nächsten Zeile von rechts nach Links, und so weiter. (So musste man die Hand nicht queer über das Papier bewegen).
Ich kann leider kein Beispiel abbilden, da ich nicht weiß, ob man auf Computern so schreiben kann, oder nicht.
Ich bin heute auf deine/Ihre Seite gestoßen, und finde sie super!
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Hallo David, das mit der abwechselnden Schreibrichtung ist wirklich super interessant! Ich könnte mir vorstellen, dass man das replizieren kann, indem man zwischen den Zeilen zwischen den Eingabesprachen auf dem Computer wechselt, von z.B. Deutsch zu z.B. Arabisch? Aber das müsste man ausprobieren, ob das wirklich funktioniert …
Danke auch für deine Rückmeldung, es freut mich sehr, das zu lesen! 🙂
Liebe Grüße!
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